Die Geschichte der Malerei liest sich nicht weniger als ein historischer Abenteuerroman. Von den Anfängen prähistorischer Höhlenmalerei über das von strengen ikonographischen Normen geprägte Mittelalter hin zur Blüte des Humanismus der Neuzeit und weiter zu den Kämpfen zwischen Historismus, Naturalismus und Impressionismus im 19. Jahrhundert mündete die Malerei im 20. Jahrhundert schließlich in der Entfesselung der reinen Farbe, ihrer Befreiung vom Figürlichen, somit in der Abstraktion. Dabei handelt es sich keineswegs um eine lineare und damit unumkehrbare Entwicklung, sondern um eine vernetzte Weiterentwicklung, das zeigt spätestens die Epoche der Moderne mit ihren Brüchen, bewussten Rückbestimmungen und der Abkehr von der fort-schrittsgläubigen Theorie stetiger künstlicher Innovation.

Deshalb betrachten wir jede aktuelle künstlerische Position stets auch vor dem Hintergrund der Historie, des bereits Dagewesenen, und versuchen das Werk des Zeitgenossen kunsthistorisch einzuordnen. Sebastian Heiner, 1964 in Berlin geboren, ist seit Ende seines Studiums der Freien Malerei an der Hochschule der Künste in Berlin freischaffend tätig. Der Künstler lotet mit großer Beständigkeit die sinnliche Präsenz der Farbe als greifbare Materie aus und hat sich konsequent der klassischen ölmalerei auf Leinwand verschrieben. Der schöpferische Akt hat für Sebastian Heiner nichts von seiner ursprünglichen sakralen Stärke eingebüßt. Unweigerlich erinnert man sich Lovis Corinth (1858-1925), einer der großen Neuerer der Malerei an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, zugleich ein Außenseiter der Moderne zwischen Impressionismus und Expressionismus. Der Schlüssel zum Verständnis seines Werkes ist die Betonung des Schöpferischen, die Corinth analog zur Schöpferkraft der Natur antrieb, wobei er malerisch zugleich bauend um zerstörend vorging, genau wie die Kräfte der Natur.

Corinth hinerließ ein Werk, in dem sich diese Ambivalenz spiegelt: “Einerseits die malerische Materialisation aller Dinge der Natur und damit zugleich ein malerischer Hymnus auf die Schöpfung und das Leben, andererseits die Verwandlung der gesamten Natur in Malerei und damit die Dematerialisierung und Spiritualisierung aller Gegenstände, ihre Aufhebung in jene Autonomie und Unwirklichkeit reiner Malerei, die Corinth als höchstes Ziel formuliert hat.” Folgerichtig bestand für Corinth die wahre Kunst darin, “Unwirklichkeit zu üben”.

Die Affinität zur Religion klingt bei Heiner immer wieder an, etwa in Bildertiteln wie “Die Heiligen in der Nacht” (1998) oder “Prozession” (1998). Wobei die Motive oftmals im vagen bleiben, als wollte der Maler zwar auf die Geheimnisse des Lebens und der Schöpfung anspielen, sie aber zugleich nicht preisgeben. Dies geschieht weniger durch eine religiöse Affinität zur Farbe, wie wir sie etwa bei Alexej von Jawlensky (1864-1941) finden. Der deutsch-russische Maler, der der Künstlervereinigung des Blauen Reiter angehörte, verstand seine Malerei als eine Meditation oder ein Gebet in Farben. Im Vergleich dazu ist Sebastian Heiner ein eher nüchterner Kolorist im Sinne Ernst Wilhelm Nays (1902-1968). Nay, der zu einer musikalisch-kontrapunktischen, flächig betonten Abstraktion fand und die Farbe als gestaltende Kraft einsetzte, beschrieb den Koloristen als Maler, der gewissermaßen durch die Farbe denkt uns seine Anschauung durch die Farbe vollzieht.

In diesem Sinne ist Sebastian Heiner ein Farblyriker, der Begegnungen schildert, Physiognomien der menschlichen Psyche nachzeichnet und mal wuchernd, drängend und vital, mal empfindsam, vorsichtig und zögernd den Bildraum aktiviert.

Beim Einsatz der Farbe scheut Sebastian Heiner keine “großen Kontraste”, wie sie Wassily Kandinsky (1866-1944) in seiner an Goethe angelehnten Farbenlehre definierte: “So ist es z. B. mit der Benachbarung von Rot und Blau, dieser in keinem physikalischen Zusammenhang stehenden Farben, die aber gerade durch den großen geistigen Gegensatz unter ihnen als eine der stärkst wirkenden, eine der bestpassenden Harmonien heute gewählt werden.” Schon in seiner 1926 erstmals erschienenen theoretischen Schrift “Punkt und Linie zu Fläche” sprach Kandinsky, der in München im Kreise der Expressionisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Befreiung der Farbe von der gegenständlichen Form auslöste, von der Möglichkeit, “in das Werk zu treten, in ihm aktiv zu werden und seine Pulsierung mit allen Sinnen zu erleben.”

In diesem Sinne sind die ölbilder von Sebastian Heiner im Zwischenreich von Figuration und Abstraktion angesiedelt und leben vom Gestus der Pinselführung, von der Kraft der Farben und einer eruptiven, bisweilen destruktiven Oberflächengestaltung. Die abstrakten Arbeiten sind dezidierter im Hinblick auf eine erzählerische Oberflächentextur hin ausgearbeitet und dennoch von großer narrativer Kraft.

Farbwülste treffen auf glatte, dünn lasierte Farbflächen, Kratzspuren, mit dem Pinselstil ausgeführt, erzeugen ein fragiles Liniengeflecht auf dem teilweise zentimeterdicken Farbauftrag. In partiellen Verwischungen, mit dem Handballen oder mit der Papierrolle vorgenommen, manifestiert sich der prozessuale Charakter bei der Entstehung der Werke. In Darstellungen wie “Feuer, Wind und Staub” (2000) werden die Grenzen der vorgegebenen Bildfläche bis zum äußersten ausgelotet. Die kraftvoll auf dem Bildgrund verteilten Farben wirken bei aller Dynamik zugleich ausgewogen, sie schwingen in einem Rhythmus, der durch die Komposition vorgegeben wird.

Sebastian Heiner geht es nicht um eine Auflösung des Figürlichen in der Abstraktion, sondern vielmehr um die Transformation der Gegenständlichkeit in figurative Fragmente, die Steigerung des Atmosphärischen und die Intensivierung der Farbwirkung. Der Maler, der seine Inspirationen aus der Musik, dem Film, der Literatur und der darstellenden Kunst erhält, strebt in seinen Arbeiten formal nach kompositioneller Ausgewogenheit und einer Harmonisierung des Farbklangs, die in der Binnenstruktur jedoch häufiger wieder aufgebrochen werden. Inspirationen aus der Musik klingen an in Titeln wie “Sinfonie in Rot” (2000), “Der Tanz” (2000) oder “Das Konzert” (2000). Zugleich ist die Rhythmik ein stilistisches Merkmal, die Malerei wird zur umgesetzen Partitur, die duale Gegensätze wie Trieb und Vernunft, Nervosität und Ruhe, Brutalität und Sanftheit, Chaos und Ordnung, Sehnsucht und Angst, Vergangenheit und Zukunft in die malerische Bildfläche einschreibt. Die vollendeten Darstellungen erzeugen deshalb nicht selten im Betrachter ein Gefühl von Unruhe oder gespannter Aufmerksamkeit. Das Auge bereist erwartungsvoll die Bilder und vermag immer wieder Neues zu entdecken. Bestimmte Strukturen können erst bei wiederholter Betrachtung hervortreten, bisher nicht entdeckte Farbnuancen tauchen plötzlich auf. Je länger man ein Bild betrachtet, um so mehr verändert es sich. In eher dunkelfarbigen Darstellungen wie “Tunnelfahrt” (1999) oder “Blick auf die Stadt” (1999) treten bei intensiver Betrachtung nach einiger Zeit die wenigen hellen Partien stärker hervor und die sehr dezent eingesetzten bunten Farbnuancen beginnen, im dunklen, schwarztonigen Umfeld stärker zu wirken und treten deutlicher in Erscheinung. Das Landschaftsbild, eine der traditionellen Gattungen der ölmalerei, greift Sebastian Heiner entweder in lyrisch-poetischer Weise auf, so in “Blauer Regen” (1999) und “Nach dem Regen” (1999) oder auf kraftvoll expressive Art wie in der Darstellung “Durchbrochener Horizont” (2000).

In den figürlichen Darstellungen tauchen immer wieder die typischen, stark vereinfachten, etwas hölzern wirkenden Strich- und Konturfiguren auf. Der eingefleischte Großstädter Sebastian Heiner bevölkert seine Phantasie-landschaften mit diesem archaisch anmutenden Menschenfiguren im zumeist außerstädtischen Umfeld. Alter, Geschlecht oder soziale und ethnische Zugehörigkeit dieser Wesen sind kaum auszumachen. Meist treten die Figuren in Gruppen auf, wirken trotz ihrer Grobheit fragil und verletzlich und erscheinen unelastisch, ja hölzern in ihren Bewegungen. In vielen Bildern begegnen uns keine Individuen, vielmehr werden Szenen anonymer menschlicher Zusammenkünfte angedeutet. In der als großformatiges Panorama angelegten Darstellung “Traumwelt” (2001) könnte man Kampfszenen entdecken. In Bildern wie “Gelber Berg – Figuren im Gespräch” (2000) oder “Die Versuchung” (1999) sind hingegen eher friedliche Zusammentreffen dargestellt, die Menschen reagieren aufeinander, befinden sich im Gespräch oder hören einander zu.

Die Bilder von Sebastian Heiner entziehen sich einer einseitigen, schlagwortartigen Zuordnung. Bewusst forciert der Maler sowohl stilistische als auch inhaltliche “Disharmonien” und bewegt sich als Grenzüberschreiter zwischen figürlicher und abstrakter Malerei. Sebastian Heiner lässt Farbkontraste aufeinanderprallen, um der ästhetischen Profanisierung entgegenzuwirken. Seiner Bilder sind in erster Linie Ausdrucksträger individueller Erfahrungen, persönlicher überzeugungen und auch seelischer Zustände. Gleichzeitig lassen sie viel Raum für die Interpretation durch den Betrachter. Bei der Betrachtung sollte es nicht darum gehen, die Gefühle und Gedanken des Malers zu dechiffrieren. Viele seiner Bilder werfen die Frage auf, was denn genau zu sehen ist, was genau der Maler darstellen will. Natürlich bieten die Titel einen gewissen Anhaltspunkt, der aber auch in die Irre führen kann. So mutet die Szene in der Darstellung “Beutezug” (1999) nicht unbedingt wie ein räuberisch-aggresiven Kriegszug an, sondern kann durchaus auch als eine friedenstiftende Zusammenkunft interpretiert werden. Sebastian Heiners Bilder agieren also subversiv, sie führen ein selbstbewusstes Eigenleben.

Manuela Lintl
Berlin 2001