Diese Figuren wirken anders als gewohnt. Sie sind nicht einfach Gestalten, die gesichts-rund namenlos das Bild bevölkern, sondern sie erscheinen wie Persönlichkeiten mit Ideen und Ansichten, mit Gefühlen und Träumen. Sie sind dort platziert, wo der Betrachterblick meist ansetzt, an der linken Bildkante. Ihre Gestalt entspricht den schmalen, in ihren Strukturen nur schemenhaft zu erkennenden Körpern, die sich in der Mitte und im rechten Drittel des Bildes zu undurchdringlichen, fast bedrohlich wirkenden Haufen verdichten. Innerhalb des Geschehens nehmen sie aufgrund ihrer Randposition nur eine Nebenrolle ein.

Wahrscheinlich würde ich diesen Figuren keine Andersartigkeit und keine Persönlichkeit zusprechen, wäre ich nicht zufällig bei ihrer Entstehung anwesend gewesen. Im Gegensatz zu den restlichen, bereits ausgearbeiteten Bildpartien waren die Strukturen des linken Teils zu diesem Zeitpunkt nur grob festgelegt. Kräftige Grün-, Rot- und Hellblautöne bilden einen auseinander fallenden, in seiner Farbigkeit irritierend poppigen Hintergrund, vor dem kräftige, in warmen Tönen gehaltene Striche Vegetation andeuten. Gestalten, oder sogar Personen gab es noch nicht. Erst durch die Einheit und Ruhe, die großzügige, lichte, Schicht um Schicht entstandene Hintergrundsfläche bot, wurde die Platzierung von Gestalten an diesem Ort möglich. Doch einen Moment lang stand die Komposition offen- bis die Malerhand, versehen mit verschiedenen Tönen weicher Ölfarbe, in kräftigen Zügen zwei langgestreckte Gestalten umriss. Im direkten Kontakt mit der Leinwand, den Pinsel als Mittel nur gelegentlich nutzend, wurde Farbe aufgetragen – mal flächig geschmiert, mal als scharfe Kontur gesetzt. Die beiden Gestalten erhielten ein Gegenüber, das ihnen die Hände entgegenstreckte, als wolle es begrüßen oder etwas Gesagtes mit einer Geste untermauern. Auf dem vollendeten Bild ist diese Person nicht mehr zu finden. Im Verlauf des Malprozesses verschwand sie und eine neue, etwas nach rechts versetzte Gestalt erschien, mit einem Kind auf dem Schoß. Während die beiden am Bildrand befindlichen Gestalten auf das gesamte Geschehen blicken, schaut die Figur mit Kind die beiden an, so dass diese kleine Szene eine intime und ruhige Abgeschlossenheit gegenüber den angrenzenden, turbulenten Ereignissen ausstrahlt.

In den Bildern von Sebastian Heiner scheinen die Figuren häufig wie auf vorgegebenen Bahnen aneinander vorbei zu schreiten, so dass sie in ihrem Versuch aufeinander zu zu gehen scheitern. Doch diesen hier gelingt ein Austausch.

Das dargestellte Geschehen ist kaum eindeutig einzuordnen. man könnte einer Naturkatastrophe genauso wie einem Kriegsschauplatz, einem Barrikadenkampf oder schlicht einem riesigen Fest gegenüberstehen – je nach Stimmung wäre jede Richtung interpretierbar.

In jedem Fall jedoch wird eine Szene gezeigt, die als Moment eines komplexen und andauernden Geschehens von Vorher und nachher, von einem Davor und Dahinter geprägt ist. Die drei Bildzentren – die kleine Gruppe links und die Figurenknäuel in der Mitte und rechts – suggeriert in ihrer Abgeschlossenheit und Unterschiedlichkeit eine zeitliche oder räumliche Differenz. Die Komposition kann als Nebeneinander dreier verschiedener, nahe beieinander liegender Momente oder als drei unterschiedliche Ansichten einer örtlichen Situation gedeutet werden. Es entsteht der Eindruck einzelner Episoden, die auf einer Bildfläche vereint sind, so dass die steten Veränderungen und die Prozesshaftigkeit des Geschehens deutlich werden.

Trotz der schweren, kräftigen Ölfarbe haftet den Figuren etwas schattenhaftes an, sie tauchen auf, um sofort wieder zu verschwinden. Der transparente, lichte Hintergrund unterstützt diese Wirkung, indem er das Materielle der Figuren und Gegenstände mit dem Atmosphärischen der Umgebung verbindet. Der Gegensatz von Statik und Fluss, von Material und Atmosphäre findet in den Kontrasten und dem facettenreichen Auftrag der Farbe sein Echo. Rötlich-braune, in ihrer Wirkung erdige, fast fleischliche töne setzen sich gegen das kühle Vibrieren eines hellen Türkis. Dunkle, kräftige gearbeitete Partien werden durch transparente Flächen gelockert, durchlässige Gitterstrukturen unter geronnener Farbe finden in pastosen Farbkrusten ihr Gegengewicht. Mithilfe von Farbgebungen und Auftrag wird ein Spiel von Schatten und Licht inszeniert, das wesentlich für die Dramaturgie des Geschehens ist.

Wie die dargestellten Ereignisse, unterliegt der Malprozess einem stetigen Wandel, die Kombination der Farben, die Strukturen von Linien und Flächen werden beständig verdichtet, wieder aufgelöst und neu zusammengeführt. Auch wenn die formalen Metamorphosen des Bildes in ihren einzelnen Schritten nicht nachvollziehbar bleiben, zeigen sie sich in der Dichte von Farbe und Komposition. Als Metamorphose der Malerei verweisen sie auf die Metamorphosen des Lebens. Unter diesen Prozess lässt sich nur schwer und mit Vorbehalt ein Schlussstrich ziehen. Doch gerade in diesem Kompromiss, in dieser Schwierigkeit der Vollendung liegt die Chance für den Betrachter, sich in das geschehen hineinzubegeben und es imaginär zu einem Abschluss zu bringen. Vielleicht haftet den Figuren am linken Bildrand deshalb etwas besonderes an, weil sie als Gruppe bereits zu einer Stimmigkeit gefunden haben, der nur schwer etwas hinzuzufügen ist. Es ist kaum vorstellbar, als Betrachter in ihrer Mitte zu treten. Dennoch ist es möglich, sich in der Imagination neben sie zu begeben und sich von ihrem Randposten aus in den Bann des Geschehens ziehen zu lassen – welche Bilder und Geschichten, Träume und Gedanken man auch immer mit diesem verknüpfen mag.

Nina Gülicher
Berlin im Juni 2001