“Meine Gedanken schweifen immer wieder weit fort und ich muss mich konzentrieren, damit sie mir nicht zu lange in Beijing verweilen.”, schreibt Sebastian Heiner in einem Weihnachtsgruss aus dem fernen Berlin. Es ist diese dynamische, abenteuerliche und so unbekannt bleibende Millionenstadt, die ihm nicht aus dem Kopf gehen will. Diese Stadt, die den unaufhaltsamen Weg in eine rasante Moderne eingeschlagen hat, mit ihren mehrspurigen Strassen, verstopft mit Fahrzeugen und gesäumt von hoch aufstrebenden Hochhäusern, glitzernden Hotels und Einkaufszentren. Beijing wirkt mit seinem Menschenmassen wie ein moderner Moloch, der wild wuchert und seinen Bewohnern im wahrsten Sinne des Wortes langsam über den Kopf wächst. Dies sind die ersten Eindrücke, die jedem neu angekommnen Besucher ins Auge fallen. Auf dem zweiten Blick lassen sich die gewaltigen Gegensätze der chinesischen Metropole erkennen. Das Ineinanderfließen auf engstem Raume von arm und reich, schön und hässlich aber auch überdimensional und kleinkariert fällt dem Fremden mit Erstaunen auf. Denn in diesem Land, wo einst der Traum von der klassenlosen Gesellschaft auf die Spitze getrieben wurde, gibt es heute eine Zweiklassengesellschaft so ausgeprägt, wie kaum irgendwo: der einen Klasse gehören die eingesessenen Stadtbewohnern an, der anderen die zugezogenen Landbevölkerung. Die eine Klasse hat immer mehr Chancen, im Lebensstandard von der Modernisierung zu profitieren, die andere kann mit der Entwicklung kaum Schritt halten.

Übergänge von der einen Welt in die andere erlebt Sebastian auf seiner täglichen Fahrt von seiner Wohnung im mondänen Außenbezirk Wangjing durch das ärmliche Dorf Suojiacun, wo sich auch seine Werkstatt befindet. An vierspurigen menschenleeren Strassen reihen sich vornehme Villen neben edlen internationalen Restaurants, um kurz nach der nächsten Kreuzung in eine enge Gasse einzubiegen, die von einer unvorstellbaren Menschengemenge belebt und von winzigen Baracken mit kleinen Imbissstuben und lottrigen Coiffeurläden eingeengt ist. Das Menschliche und die scheinbare Genügsamkeit in den Gesichtern der Chinesen erwecken eine Leidenschaft, die kaum einem Fremden unberührt lassen. Diese Faszination der Gegensätze, die sich im menschlichen Miteinanderleben verschiedenster Lebensformen und Bauweisen ausdrückt, bietet einen reichenhaltigen Fundus an soziologischer Analyse und artistischer Inspiration. Sebastian lässt seine Sichtweise über die pulsierende und widersprüchliche Stadt in seinen Werken sichtbar einfließen. Mit einer Kraft an Farbintensität und Lebensfreude bringt er den Gegensatz von abstrakter und konkreter Kunstform auf die Leinwand. Menschlich weiche Farben wechseln sich mit harten düsteren Schattierungen ab, die allesamt kraftvoll in ihren Bewegungen und Ausstrahlungen wirken. Welche Stadt außer das grau-versmogte abendliche Beijing mit seinen buntgrellen Neonreklamen in den tiefen Strassenschluchten kann damit leichter assoziiert werden?

Patrick Dreher
Oktober 2007 in Beijing