1993-09 | Dr. Wally Poltiniak – Auf der Suche nach der inneren Balance

Das Anliegen, sich vom Menschen und der Welt ein Bild zu machen, dürfe ein altes Thema der Kunst sein. Sebastian Heiner greift es auf, malt Figuren und Szenen, die ihm selbst ganz nahe sind. Er sucht keine Mythen, sondern entdeckt im Alltag den Stoff, dem er seine Gedanken und Befindlichkeiten anverwandelt.

Leichtfüßig kommen sie daher in ihrem schmalen Habitus, Körper und Kopf annähernd gleichwertig komponiert, Männer oder Frauen nur schwer zu unterscheiden. Langfließende Gewänder umspielen ihre Gestalt und verwandeln die äußere Hülle in eine existentielle Form, die in einigen Passagen mit ihr identisch, beinah selbst Leib, Körper wird oder Haut.

Es entsteht der Eindruck, sie alle sind auf der Suche nach dem anderen, berühren sich sanft und kommunizieren freundlich miteinander. Das schließt jedoch Erregung nicht aus, wie sie besonders durch die lebhaft agierenden Gesichter und die vielen erhobenen Hände kompositorisch verursacht wird. Denn in Überscheidung zu den betont vertikalen Figuren bauen sich hier Spannungen auf, die fast symbolhaft das Gefühl der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach Angenommenwerden durch die anderen, untersetzten.

Es sind erfundene Gestalten, die der Künstler aus eigener Identität schöpft. Bei allen Reduzierungen ihres Erscheinungsbildes gelingt es ihm, sie reich mit Sensibilität auszustatten, ihnen verborgene Gefühle sowie Kraft zu verleihen.

Sie entstehen unmittelbar im Prozess des Malens selbst, werden also weder vorher ausgedacht noch genau skizziert. Sebastian Heiner arbeitet in einem schwungvollen Gestus, setzt mit breiten Pinsel seine Farbe vehement auf die Bildfläche, zieht sie weit aus und formuliert dabei die Figuren. Sein Umgang mit dem Material hat etwas Eruptives, denn zunächst in großzügigen Rhythmen angelegt, wird geschichtet, Farbe dann wieder ausgekratzt, kompakte bzw. lasierende Partien nebeneinander belassen. Dabei wird sowohl mit einem Pinsel als auch Spachtel gearbeitet, oft zusätzlich Tücher und beide Handballen genutzt, um durch das Verreiben der Farbe eine klangvolle Struktur zu erreichen, die der Bildidee Transparenz gibt.

Mitunter bleiben grobkörnige Reste auf der Leinwand stehen und entwickeln interessante Kontraste von pastosen zu flächigen Passagen, von Hell zu Dunkel, Licht und Schatten steigernd.

Diese Malerei will Realität nicht beschreiben, eher ist sie eine Methode, den Menschen zu verlebendigen, seine sozialen Bindungen und individuellen Seelenzustände ins Bild zu setzen. Immer wieder sucht der Künstler solchen Ausdruck in der Darstellung großer Menschengruppen, die ganzfigurig aufgebaut, den vollen Bildraum beanspruchen. Da bleibt kein Platz für Landschaften oder städtischen Situationen, sie alleine drängen hier zueinander, leben sich aus.

In der Komposition “Winterzeit” 1992 ist der Himmel tief heruntergezogen, die Gruppe bewegt sich auf einem schmalen bühnenartigen Vordergrund. Vermummte, einsame Gestalten sind es, die hier in einer verfremdeten Welt zusammenkommen. Doch bei aller Sensibilität sind diese Menschen stark und nehmen die Welt an, auf ihre Weise, dann verwandelt sich Mensch und Natur ineinander. Ein solcher Gestaltenwandel vollzieht sich in dem Bild “Erscheinung” 1993, wo der menschliche Körper mit weit ausgebreiteten Armen von einem mächtigen Baumstamm aufgesogen wird. Die Malerei nimmt das Körperliche weitgehend zurück, löst sozusagen die Erscheinung auf, um eine andere, dem Dynamischen verwandte Wesensform, zu schaffen.

Neben dem malerischen Werk gibt es eine beachtliche Anzahl interessanter Grafiken, vorwiegend Bleistiftzeichnungen. Auch hier finden sich ähnliche Auffassungen wie in der Malerei, so die überlangen Gestalten, die ganz in das Lineament der Fläche eingebunden erscheinen. Dem schwarz-weißen Grundklang wurden viel Nuancen abgewonnen, so dass emotional empfundene Raumsituationen entstehen. Äußerst feine, akribische Strichlagen kommen zusammen, dicht gebündelt, bewirken sie eine eigenartige Spannung.

Den Figuren haftet eine Instabilität an, die sie noch deutlicher schweben lässt, als es in der Malerei der Fall ist. Gleichzeitig sind sie aber sehr diszipliniert dargestellt und in ihren Konturen genau definiert.

Aus den unendlich filigranen Strichlagen kommen grüblerische Wesen hervor, zerbrechliche Geschöpfe auf der Suche nach der inneren Balance.

Malen erfolgt als Aktion, was der Künstler im Sinne eines spontanen Vorgangs bejahrt. Zufälligkeiten und Intuitives gewinnen dabei an Bedeutung, Zwischentöne entwickeln sich, die letztlich von ambivalenter Wirkung sind und ein Menschenbild dominieren lassen.

Sebastian Heiner arbeitet intensiv vor der Leinwand, dabei die Entfaltung seiner Motive befragend, und sie gedanklich begleitend, Spuren von Unterbewusstsein nicht verabsolutieren, auch zu kontrollieren. Und er ist ein Künstler, der den Gegenstand nicht aufgibt, einer, der sein persönliches Weltverhältnis über Gestalten vermittelt, die eigentlich der Wirklichkeit entrückt, letztlich als Sinnbilder ihren Betrachter erreichen.

Dr. Wally Poltiniak, Potsdam 1993