Zum wiederholten Mal reiste Sebastian Heiner nach Fernost um dort zu malen. Von 2004 bis 2008 unterhielt er neben seinem Atelier in Berlin auch eines in Beijing. Bald wurden in der chinesischen Hauptstadt Künstler, Kuratoren und Galeristen auf ihn aufmerksam. Am Ende standen viel beachtete Einzelausstellungen in Beijing und Deutschland seiner in China entstandenen Werke. 2010/11 arbeitete er in Shanghai, wo er sich in der North Bund Art Zone ein Atelier mit dem Maler Liu Gang teilte. Jetzt, im Dezember 2012, verwirklichte er den schon länger gehegten Plan, während eines mehrmonatigen Aufenthalts in der thailändischen Hauptstadt Bangkok zu malen. Sicher verbindet ihn seit seinem ersten Aufenthalt in China eine besondere Faszination mit Ostasien und vor allem mit den menschlichen Erfahrungen, die er in der Zusammenarbeit mit den dortigen Malerkollegen machte. Aber kann man in den Werken eines abstrakt arbeitenden Künstlers wirklich eine Brücke zwischen Europa und dem Osten oder gar ein daoistisches Prinzip erkennen, wie es chinesische und deutsche Autoren der vorangegangenen Kataloge ausgemacht haben wollen? Würde man in den in Thailand entstandenen Werken Einflüsse der lokalen Kultur entdecken können?

Der Künstler selbst legt Wert auf die Feststellung, dass der bloße Ortswechsel, weg aus Berlin in noch viel größere, pulsierendere Städte, die Befreiung vom eigenen Ich, den Antrieb zu einer Steigerung der Kreativität mit sich bringen würde. Wie zuvor Beijing und Shanghai ist auch Bangkok für ihn ein Moloch, eine Menschen verschlingende Stadt. Patrick Dreher, Autor des 2007 in Beijing entstandenen Katalogs, bestätigt den chaotischen Charakter der chinesischen Großstädte, unter dem die Bewohner offenbar mehr leiden als dass sie dort Lebensfreude empfinden. Auch Bangkok macht diesem Eindruck gelegentlich alle Ehre, wenn man beispielsweise für die abendliche Bustour von einem Stadtteil in den anderen bis zu drei Stunden benötigt. Sebastian Heiner trägt seine Malerei mit explosiven Formen und der Qualität einer Performance vor. Er bewirft die Leinwand mit Farbe, quetscht Ölfarbe mit dem Fuß aus der Tube heraus, verteilt sie mit Händen, Unterarmen und improvisierten Spachteln auf dem Malgrund und strukturiert sie mit Besen und Fliegenklatsche. Ist dies also eine Kunst, die das chaotische Erscheinungsbild der ausufernden Millionenstädte reflektiert?

Anders als viele andere europäische, amerikanische und australische Künstler, die als Touristen nach Bangkok kommen, das Land kennen lernen, Kontakte zu den zahlreichen Kunsthochschulen und der sich langsam entwickelnden Galerien-Szene knüpfen und dann mit Bedacht anfangen künstlerisch tätig zu werden, hat er nach kurzer Vorbereitungszeit abseits von den touristischen Highlights ein Atelier in den Ausuferungen Bangkoks gefunden und sofort zu malen begonnen. Fast schien es, als würde er diesmal zu große Nähe, einen zu langen Aufenthalt mit intensiven Einflüssen der fremden Kultur vermeiden wollen. Und tatsächlich zeigen seine dort entstandenen Werke keine figürlichen oder erzählerischen Elemente mehr wie sie in den in China gemalten Bildern in Form von Gesichtern und Gliedmaßen oder chinesischen Schriftzeichen gelegentlich erscheinen, sondern sind ausschließlich abstrakt.

Der Maler mietete ein Atelier in der Künstler-Kooperative V64 , einem Zusammenschluss von über siebzig Künstlern, die 2011 einen Komplex aus meist einstöckigen, um einen zentralen Platz gruppierten Lagerhäusern erwarben und dort rund vierzig Ateliers, eine Galerie, Kunstakademie, Musikschule, und einen Coffee-Shop einrichteten. Der Hinweis auf diese Ateliergemeinschaft kam von befreundeten thailändischen Künstlern, die in Deutschland leben und zwischen beiden Ländern pendeln. Auch die Künstler von V64 sind weltoffen. Viele haben im Ausland studiert und pflegen Kontakte zu Galerien in aller Welt. Abseits einer großen Ausfallstraße, der Chaeng Wattana, auf halbem Weg zwischen dem Chatuchak-Wochenendmarkt und dem alten Flughafen Don Muang gelegen, ist V64 eine Oase der Ruhe und Kreativität.

Bangkok ist vieles gleichzeitig: die Stadt der großen Einkaufszentren und quirligen Boulevards, an denen laufend neue Hotels, Bürohochhäuser und Shopping Malls entstehen und wo allabendlich zur Zeit der Rushhour die Nachtmärkte aufgebaut werden. Bangkok ist die Stadt der kleinen verwinkelten Quartiere, in denen die Menschen ihren täglichen Geschäften nachgehen, wo sie alles Lebensnotwendige finden und die sie nie verlassen müssen. Und es ist die Stadt der zersiedelten Vorstädte, die von mehrspurigen Magistralen, riesigen Kreuzungen, Überführungen und auf Betonpfeilern stehenden Stadtautobahnen zerschnitten werden. Verlässt man diese Hauptstraßen durch eine der seitlichen von Wohn- und Geschäftshäusern gesäumten Gassen, so gelangt man zu kleinen Straßenmärkten und in fast ländliche Gegenden, in denen noch die typischen aus Holz gebauten und auf Stelzen stehenden Thai-Häuser inmitten von Bananenstauden und üppig blühender Bougainvillea stehen. In solch einer Gegend liegt V64.

Die Thais nehmen ihre Hauptstadt mit buddhistischer Gelassenheit als etwas Gegebenes, Unveränderbares hin. Sie verbringen Stunden auf dem Weg zur Arbeit, drängen sich in überfüllten Hoch- und Untergrundbahnen, schlafen in Bussen, die stundenlang auf Kreuzungen stehen oder gemächlich durch kleinere Stadtviertel zuckeln. Abends treiben sie zu Hunderten Sport in den Parks oder machen auf jeder sich bietenden Freifläche Aerobic zur Musik aus der mobilen Stereoanlage und zu den Bewegungen einer ausgebildeten Vortänzerin. Meist essen sie in den direkt an der Fahrbahn aufgebauten mobilen Garküchen und in Straßenrestaurants. Sie feiern zu Tausenden die buddhistischen Feste oder den Geburtstag des Königs und fahren an Feiertagen Hunderte von Kilometern aufs Land, um für wenige Stunden ihre Familien zu sehen. Jeder kann in Bangkok sein Glück versuchen. Einhundertausend gehen jedes Jahr aus der Provinz in die Hauptstadt, eröffnen ein Geschäft, ein kleines Restaurant, lernen, studieren oder reihen sich in das Heer der kleinen Angestellten und Arbeiter ein. Politische und soziale Unruhen zwischen den gering Verdienenden, der wachsenden Mittelschicht und den Regierenden brechen so unvermittelt wie Unwetter über die Hauptstadt herein. Zerstörungen sind schnell beseitigt, das Leid von vielen bald vergessen. Thais dürften Bangkok nicht als Chaos, sondern die vielfältigen Erscheinungsbilder der Stadt und ihre gesellschaftlichen Strukturen als geordnet empfinden.

Der Ausländer, der hier seinen Geschäften nachgeht, wird nie herausfinden, ob er sich unter Millionen von Individualisten oder in einer durch offenkundige Muster geregelten Massengesellschaft aufhält. Was anarchisch wirkt, ist durch Traditionen, familiäre, religiöse und staatliche Normen und festgefügte Überzeugungen von Oben und Unten im öffentlichen Leben geregelt. Gesellschaftlichem Zwang versuchen viele durch grenzenlosen Konsum in der globalisierten Warenwelt zu entkommen. In der thailändischen Kunst, in Malerei, Graphik, Installationen, Videos und Medienkunst, ist dieser Konflikt heute ein gängiges Thema.

Das Chaos entsteht in unseren Köpfen. Wir sitzen auf dem Balkon im zehnten Stock unseres Appartement-Hochhauses und blicken auf eine Stadt mit Millionen von Lampen, umgeben von futuristisch angestrahlten Hochhäusern, Leuchtreklamen und Rücklichtern endloser Schlangen von Fahrzeugen. Wir begegnen Menschen, die uns mit großer Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit und tausend Fragen auf den Lippen ansehen und Fremden nur selten Zugang zu ihrem Privatleben gewähren. Schnell fällt der Blick auf die kleinen Dinge. Thais sind Meister des Designs, der Dekoration und der schnellen Improvisation. Provisorisches, schnell zusammen Gezimmertes, überdauert Jahre. Wo Traditionelles abgerissen wird, entsteht Neues aus Stahlbeton, Aluminium und Glas. Die Fotokamera hält alte chinesische Tempel fest, Slums und heruntergekommene Kinos neben Geschäften mit internationalen Marken, gewagte Farbkombinationen auf Häuserwänden, kuriose Betonkonstruktionen, Blumenmärkte mit Bergen von Orchideen und die unentwirrbaren Knäuel elektrischer Leitungen, die gefährlich nahe auf Bürgersteige herunter hängen. Sebastian Heiner hat das mit Fotos und Texten in seinem Internet-Blog beschrieben.

In seinen Ölbildern findet sich davon offenbar nichts. Theoretischer Hintergrund seiner Kunst sind ungegenständliche Tendenzen, die mit dem Abstrakten Expressionismus und dem Action Painting vor der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Amerika entstanden und sich in unterschiedlicher Gestalt manifestierten. Jackson Pollock schuf Drippings, indem er Ölfarbe von Pinseln und aus Dosen auf plan liegende Leinwände tropfen ließ, der aber auch schweres Impasto aus Farbe, Sand und Glasscherben mit Stöcken und Messern zu reliefartigen Oberflächen verarbeitete. Franz Kline visualisierte mit balkenartigen schwarzen Zeichen gestischen Ausdruck und malerisches Handeln. Bei Robert Motherwell stehen ähnliche Formen sorgsam komponierten Farbräumen gegenüber. Cy Twombly wurde von Graffiti und Kritzeleien zu einer Bilderschrift inspiriert, mit der er das von Pollock erfundene All-over, das spannungsgeladene Füllen der gesamten Bildfläche, kultivierte. Im künstlerischen Mittelpunkt aller stand der Malprozess, den vor allem Pollock als unbewussten oder auch spontanen Ausdruck psychischer Befindlichkeit verstand und der von sich selbst sagte: „Wenn ich mich im Bild befinde, ist mir nicht bewusst, was ich tue.“

In Europa entstanden zur gleichen Zeit Informel und Tachismus als stilistische Varianten der gestischen Malerei. Während in Paris Jean Fautrier ab 1947 mit einer Malerei aus plastischem Material den Übergang von der figurativen zur informellen Kunst vollzog, etablierte Georges Mathieu in öffentlichen Shows eine gesteigerte Form des Action Painting und attackierte in der Art eines Florettfechters riesige Leinwände mit explosionsartig gesetzten Farbflecken und informellen Zeichen. „Das Malen selbst wurde zum Bildthema, der Farbverlauf oder die Farbfigur zum eigentlichen Inhalt.“ (Karl Ruhrberg) In Deutschland gestaltete Emil Schumacher mit hohem körperlichen Einsatz und scharfem Intellekt farblich und kompositorisch brillante Bildlandschaften ohne Bezug zur realen Welt. Karl Otto Goetz schrieb nach langen meditativen Phasen mit dem trockenen Pinsel gestische Bahnen in feuchte Farbströme, eine Arbeitsweise, die als „psychischer Automatismus“ bekannt wurde. Fred Thieler schuf noch bis in die Achtzigerjahre farbige Bildräume mit kosmisch anmutenden Farbwolken, deren gesprühte und gespritzte Oberflächen, Rinnspuren und getrocknete Krusten aus Farbpigmenten seinen Bildern Plastizität und eruptive Präsenz verleihen.

Anders als die Protagonisten der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die sich im Wesentlichen auf nur ein für sie kennzeichnendes Gestaltungsprinzip festlegten, kann Sebastian Heiner heute frei auf das gesamte Repertoire an kreativen Möglichkeiten der informellen Malerei zurückgreifen und dieses weiter entwickeln. Einer seiner künstlerischen „Heroen“ ist Emil Schumacher, was sich in seinen Bildern in einer hohen Sensibilität und intellektuellen Durchdringung des Verhältnisses von Farbgebung, Formfindung und Komposition niederschlägt. Seine Malweise ist jedoch ist reines Action Painting wie es uns von Pollock, Mathieu und Goetz überliefert ist und bei dem gleichzeitig eine starke Verinnerlichung, das Freisetzen unbewusster kreativer Energien und „psychischer Automatismus“ zum Tragen kommen.

Während wir bei den Künstlern des Zwanzigsten Jahrhunderts auf schriftliche Berichte angewiesen sind, stehen ihm heute die Performance und dokumentarische Videos als begleitende wenn nicht selbstständige künstlerische Formen zur Verfügung. In Shanghai dokumentierte der Videojournalist Peter Wollring eine Malperformance von Sebastian Heiner ohne Publikum auf dem Dach des Atelierhauses mit dem Titel „Subliminal Session“ und einem elektronischen Soundtrack von Sebastian Drichelt. Ausblicke auf die Dachlandschaft des Yangpu-Distrikts, der unweit vom Yangtzse-Fluss durch heruntergekommene und aufgelassene Industriebauten geprägt ist, sowie filmische Details von Hochhäusern, Brücken, Hafenanlagen, vorbei fahrenden Frachtschiffen, tristen Wohnbauten und vermüllten Hinterhöfen bilden dabei weniger einen Kontrast als vielmehr die Sinn stiftende Folie für die konzentrierte, fast brutale Malweise des Künstlers. Während er auf die Leinwand geworfene Ölfarbe mit Arm, Hand und einem als Spachtel dienenden Getränkekarton in Form und Komposition bringt, Sand und anderes Material in die Malschicht einarbeitet, befindet er sich in Pollocks Sinn unmittelbar im Bild und damit in einem kreativen Rückzugsraum, der ihn von der wüsten und trostlosen Umwelt isoliert. In Bangkok schuf der Künstler während einer öffentlichen Performance anlässlich des Künstlerfests zum Jahrestag von V64 den Entwurf des später überarbeiteten Bildes „Circulation“, wobei verstärkt Sprühfarben zum Einsatz kamen. Ein weiteres Video seiner dortigen Arbeit entsteht.

Ein Blick in sein Atelier in Bangkok zeigt, dass dennoch der Produktionsvorgang und die fertigen Gemälde strikt von einander getrennt sind. Während auf dem Atelierboden Farben, Tuben und provisorische Malutensilien der vorangegangenen Mal-Sessions als bizarrer, klebriger Materialteppich überdauern, hängen an weißen Wänden Kunstwerke von bestechend farbiger Schönheit. Auch hier bilden das Hässliche und der Abfall die Sinn stiftende Folie für die perfekte Ästhetik; denn das eine würde ohne das andere nicht existieren. Bei den Gemälden sind drei Kategorien zu erkennen: Bilder, bei denen sich Farben und Strukturen explosionsartig, wabernd oder in Eruptionen in verschiedene Richtungen bewegen, solche, bei denen pastose Zeichen und Gestisches im Mittelpunkt stehen, und eine dritte Kategorie, bei der Ton in Ton gemischte Farben und krustenartige Oberflächen ein ruhiges All-over bilden. Für den Künstler stehen das Experiment, das Verlangen, neue Farbenergien aufzubrechen und Phasen der Kontemplation nebeneinander. Analog zu Bildern von Emil Schumacher kann der Betrachter auch kosmische Energien und die Weite des Universum entdecken. Die in Bangkok neu entwickelten sternförmigen Bilder sind Experiment, weisen aber auch in diese Richtung. Schwere Goldrahmen, wie der Künstler sie für einige seiner in Shanghai entstandenen Bilder erfand, sind Ausdruck für ästhetische Vollendung und entfremden das Kunstwerk endgültig vom Arbeitsprozess.

Beijing, Shanghai und Bangkok sind die Experimentierfelder, vor deren Hintergrund die Arbeiten von Sebastian Heiner entstanden sind. Vor dem Chaos, das die Megacitys verkörpern, zieht sich der Künstler in das von ihm gefundene System aus ästhetischen Prozessen zurück. Dennoch stehen seine Werke mitten im Leben: Die im Nachhinein gefundenen Titel beschreiben nicht etwa den Inhalt der Bilder, sondern geben Beobachtetes aus der Zeit ihrer Entstehung wieder. Ohne seine Reflektionen über die Existenz in Städten, die vom menschlichen Größenwahn geprägt sind, ohne seine Performances und Videos wüssten wir wenig über seine Kunst. Vielleicht steht seine Malerei doch in engem Bezug zur fernöstlichen Philosophie. Denn die Grundprinzipien des Daoismus, der „Lehre des Wegs“, treffen auch auf seine Arbeit zu: Sein Antrieb ist das ständige Beobachten der Welt, sein Arbeitsprinzip der Weg, in dessen Zentrum Schatten und Licht, Yang und Yin, stehen. Das Höchste jedoch, so der chinesische Geschichtsschreiber Sϊ Ma Tsiën (163-85 v.Chr.), seien die Erkenntnis des Nicht-Erkennens und die Rückkehr zu einem vollendeten kosmischen Prinzip.

Axel Feuss – Bangkok Januar 2013