Sebastian Heiners Dach-Performances in Shanghai

Hier ist nun wahrlich keine Idylle. Oriental und World Financial Tower, das alte und das neue Wahrzeichen Shanghais, zeigen sich nur schemenhaft und düster im Dunst. Das Auge verliert sich in dem Gewirr aus Gebäuden und Hochstraßen. Es geht kein Horizont auszumachen. Wenn etwas dem Blick Halt geben kann, dann ist es die weit aufgespannte Brücke über den Fluss Huangpu. In der anderen Blickrichtung ragen die stetig kreisenden Kräne der Werften aus dem Häusermeer hervor. Möwen und Tauben wechseln sich am Himmel ab.

Wir stehen auf dem Dach von Sebastian Heiners «Studio Shanghai», ein mehrstöckiges Lagerhaus im Shanghaier Bezirk Yangpu. Reisigbesen liegen verstreut auf dem von Ölfarbe verkrusteten Boden. Kartons mit Farbtuben stehen um ein Holzgerüst, an der eine mit Stoff bespannte Leinwand aufgehängt und wegen des starken Windes mit einem Seil befestigt ist. Das Dach ist Sebastian Heiners Insel. Schiffssirenen tönen herauf und erinnern daran, dass Shanghai eine Hafenstadt ist. Ihr Straßenverkehr ist von hier oben aus in weite Ferne gerückt; das unablässige Dröhnen nimmt man kaum wahr.

In seinem Internet-Blog beschreibt Sebastian Heiner, wie ihm die Metropole als ein alles und jeden verschlingendes Monstrum erscheint. In Shanghai fand er den antreibenden Widerstreit, dieses Spannungsfeld zwischen Konzentration und Chaos, zwischen seiner Arbeit und dem energischen, zum Teil rücksichtslosen Hochbetrieb im aufstrebenden China.

Er sucht sich Farben aus den Kisten heraus, legt die Tuben auf das geteerte Dach und tritt sie mit den Füßen aus. Mit den Händen nimmt er die dicke Farbe vom Boden. Das Orange klatscht mit einem dumpfen Geräusch auf. Immer wieder schleudert Sebastian Heiner das Material mit voller Wucht gegen die Leinwand.

Bei dem Dokumentarfilmer Peter Wollring, der Heiners Arbeit mit der Kamera beobachtet hat, hinterlassen die Roof Performances den Eindruck von Aggressivität, ja, geradezu Gewalt. Die Bilder aus Wollrings Kamera zeigen einen angespannten, hoch konzentrierten Maler, der äußerst energisch ans Werk geht. Als aggressiv kann sich einem die zupackende Malerei Sebastian Heiners durchaus darstellen. Dieser Eindruck rührt vom enormen körperlichen Engagement her. Hier wird nicht einfach nur ein Pinsel geschwungen; hier ist der ganze Leib in Bewegung. Mit den Händen und Armen, Reisigbesen und anderen Utensilien hinterlässt der Maler tiefe, plastische Spuren auf der Leinwand. Dabei trägt er die Farben nicht als Erscheinungen von Formen auf.

Bei der darstellenden Malerei erkennen wir durch die Farben hindurch etwas, das sich anschaulich gibt. Deshalb sprach der Essayist Georg Simmel bei einem Portrait als von «einem anschaulichen Bild von der Anschaulichkeit des Menschen.» Die Anschaulichkeit der Dinge wird uns bei Sebastian Heiners Bildwerken jedoch nicht von den Farben auf die Leinwand übertragen. Sie dienen nicht der Darstellung von etwas, sondern sind an sich Substanzen.

Blau ist nicht nur blau, sondern mehr noch eine Masse, die anders aufgetragen und geformt sein kann als Grün. Hier zeigen sich die Farben wie Baumaterialien in ihrer rohen Beschaffenheit. Für unsere Wahrnehmung werden sie so vielfältiger.

Mit dem Besen in der Hand zieht Sebastian Heiner durch die Farben hindurch eine prägnante, unregel-mäßige Spur, wie es ein Pinsel nicht vermag. Der Körper des Malers schreibt sich durch seine Bewegungen in den Malgrund ein. Mit seinem Arm verteilt er gleich drei Tuben Farbe auf der Leinwand. Wenn er so, nur eine Handbreit von der Leinwand entfernt und selbst völlig mit Farbe überzogen, arbeitet, scheint er mit dem Bild zu verschmelzen. Er versinkt geradezu im Malgrund. Das entstehende Werk ist von den Spuren seiner Leibesbewegungen gesättigt und erreicht eine, über die bloße Sichtbarkeit hinausgehende «innere Tastbarkeit», ein Wort, das Georg Simmel 1916 in seinem Essay über Rembrandt verwandte. Angesprochen ist damit die für unsere Sinne komplexe, verdichtete Erscheinung einer Arbeit in «Öl auf Leinwand». Sie gibt sich uns als ertastbar und erweitert damit unser Sehen, macht sensibel für Qualitäten, die wir ansonsten nicht zu sehen erwarten. Von diesen Arbeiten werden wir dazu angeregt, über die reine Farbwahrnehmung hinaus ebenfalls die sich nur im Raum zeigende Beschaffenheit zu sehen. Die Malerei gewinnt dadurch an Komplexität.

Diese Komplexität ist eine Herausforderung an unser Sehen. Und zwar ausschließlich an unser Sehen. Denn Sebastian Heiners Malerei ist keinesfalls «geistig»; sie ist weder eine Herausforderungen an den Intellekt, noch wird man diesen Gemälden gerecht, wenn man sie anhand von Querverweisen symbolisch zu lesen versucht. Vielmehr im Sehen selbst liegt die Möglichkeit, sich diese Bilder zu erschließen. Der Schlüssel zu dieser sichtbaren Spürbarkeit, zu dieser «inneren Tastbarkeit», liegt nicht etwa im geistigen Auge, son-dern im leiblichen.

Denn was wir in den Bildwerken von Sebastian Heiner sehenden Auges erleben können und zu ihrer fantastischen, ungeteilten Präsenz führt, ist das konkrete leibliche Engagement, das sie entstehen ließ. In der genauen Betrachtung erleben wir die Malerei substantiell und können sie nachvollziehen. Was sich mit Sprache nur paraphrasieren lässt: mit den Augen tasten, damit kann dieses Erlebnis nur angedeutet wer- den. Freilich ist diese Tastbarkeit eine «innere» und das Gemälde mehr Resonanzraum als eindeutiger und eingängiger Ausdruck. Wir sehen kein Symbol, das sich von der Bildpräsenz seinen Anteil nehme und uns auf etwas Anschauliches außerhalb des Bilderrahmens lenken würde. Gezeigt bekommen wir stattdessen, was wir sehen könnten, würden unsere Augen genauer sehen.

Andreas Seifert
Shanghai, 08. Februar 2011